“The real Long-Covid”
Asrat Gebru ist systemischer Pädagoge, Antiaggressivitäts- und Coolnesstrainer und Sozialpädagoge und beschreibt seine Wahrnehmung an Schulen wie folgt:
„Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass Kinder- und Jugendliche viel Zeit in pädagogisch kontrollfreien „Räumen“ verbracht haben. Sie waren nicht beständig und regelmäßig in Schulen, Tagesstätten, Betreuungsangeboten und/oder Kinder- und Jugendfreizeitstätten. Das konnte/könnte dazu führen, dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen sich in selbstüberlassenen sozialen „Räumen“ aufgehalten haben (z.B. Internet, Chatforen, Treffpunkte in der Nähe ihres Zuhauses bei mehr oder weniger Gleichaltrigen in deren elterlichen Wohnungen…) und sich dort sowohl im positiven (Selbstorganisation, Selbstbestimmung) wie auch im negativen (evtl. Kontakt zu Pornografie, Alkohol, Nikotin, Drogen, aggressive Verhaltensweisen) sozialisiert haben.
Meine Vermutung ist, dass sich die neuerlernten Verhaltensweisen nun im schulischen Alltag, sowohl positiv als auch negativ, äußern und zeigen. Hier wird jetzt deutlich, welchen wichtigen Stellenwert gerade die Schulen für die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben.“
Studien zeigen, dass Kinder ein höheres Risiko haben, psychische Störungen zu entwickeln, wenn sie sozial benachteiligt sind oder die Eltern psychisch stark belastet sind[1]
Bereits in der MLZ-Ausgabe März 2021 warnten wir vor den Folgen des Distanzunterrichts und sprachen in diesem Zusammenhang von einer „zweiten Krise“ des Systems Schule.
Schule ist Lebensraum und Lernort zugleich. Lehrkräfte sind Profis für das richtige Setting im Lernzusammenhang. Pädagogisch können wir Kinder und Jugendliche passgenau unterstützen, indem wir individuelle Förderkonzepte entwickeln.
Es zeigt sich aber, dass Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie wie die Erwachsenen auch mit psychischen Belastungen reagieren.[2] Mit diesem „Long-Covid“ im schulischen Kontext kommt nun also ein ernstzunehmender Aspekt hinzu, welcher in der Regel selten zum arbeitspraktischen Handlungsfeld einer Lehrkraft zählt: Der professionelle Umgang mit der Entwicklung psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Belastungsstörungen oder Ängste bei Kindern und Jugendlichen.
Sich als Lehrkraft dessen bewusst und dafür sensibilisiert zu sein, ist also notwendig. Die Zusammenarbeit mit Eltern, Schulsozialarbeit, Beratungszentren und Schulpsycholog*innen ist wichtiger denn je.
Doch reichen hierfür die Kapazitäten an den einzelnen Schulstandorten aus?
Die Frage muss meines Erachtens leider mit Nein beantwortet werden.
Wegen der angespannten Haushaltslage der Stadt München werden bereits jetzt keine oder nur wenige Stellen in der Schulsozialarbeit nachbesetzt. Von einer zukünftig dringend notwendigen Erhöhung des Personals kann im Moment wohl nicht ausgegangen werden.
Der Mobile Sonderpädagogische Dienst (MSD) war bereits vor der Pandemie einer sehr hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt. Seine Arbeit erscheint nun wichtiger und wertvoller denn je.
Die Zusammenarbeit mit Behörden und Trägern erweist sich häufig als sehr bürokratielastig und zäh.
Außerdem wird Personal an Schulen angestellt, welches in den seltensten Fällen eine pädagogische Ausbildung vorweisen kann.
Nicht zuletzt beeinträchtigt auch hier der Lehrermangel individuelle Förderung und inklusive Lösungen vor Ort, z.B. in Form von kleineren Lerngruppen oder zweier Lehrkräfte in einer Klasse.
Long-Covid bleibt somit wohl ein Symptom, welches Schule noch weit über den Winter 2021 begleiten wird.
Es grüßt Sie kollegial
Florian Schmidt, Leiter Abteilung Berufswissenschaft
[1] https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/wie-belastet-die-corona-pandem-nder-und-jugendliche-psychisch.html
[2] Ebd.