Die bayerische Mittelschule: Ebenfalls unsinkbar wie die Titanic?
April 1912. Die Titanic – einst das größte Passagierschiff der Welt – fährt auf ihrer Jungfernfahrt von Großbritannien nach Amerika. Am 14. April kollidierte sie mit einem Eisberg und sank! Die Geschichte kennt wahrscheinlich jedes Kind! Nicht zuletzt, weil James Cameron 1997 dieses Ereignis mit seinem gleichlautenden Spielfilm auf die Kinoleinwand brachte. Diesen sah ich mir vor einigen Wochen wieder einmal an und stellte erschreckend viele Analogien mit der aktuellen bayerischen Mittelschulpolitik fest.
Im Film erfährt der Zuschauer, dass der Kapitän viele Warnungen bezüglich bestehender Eisberge auf seiner Seeroute zur Kenntnis nimmt, diese aber ignoriert. Wieso macht er das? Weil er zum einen seiner jahrelangen Erfahrung als Kapitän zur See sowie dem Umstand vertraut, dass das Schiff als unsinkbar gilt. Schließlich hat die Titanic für einen etwaigen Ernstfall eingebaute Schotten, die man herablassen kann und damit das Ausbreiten des Wassers im Schiffsinneren verhindert. Das Schiff ist in einem solchen Moment zwar nicht mehr in der Lage zu fahren, aber es hält sich „über Wasser“. Soweit die Theorie, die Praxis sah leider anders aus.
Doch was hat die Geschichte bzw. der Verlauf dieses Films mit der aktuellen bayerischen Mittelschulpolitik gemeinsam?
Bayern 2021. Seit Jahren kommt die Mittelschule ihrem Bildungsauftrag nach. Sämtliche, bisherige Herausforderungen: Spracherwerb, Integration, Individuelle Förderung, Berufsorientierung, Ganztag, Praxisklassen, M-Klassen, Kompetenzorientierung, Inklusion oder Digitalität stellten die Mittelschule zwar auf die Probe, brachten sie aber nicht ernsthaft in Gefahr. Warum also sollte man den Kurs verlassen? Schließlich wurde dieser von Expertinnen und Experten im Staatsministerium ausgewählt, die selber auf eine jahrelange Schultradition zurückblicken konnten. Zunächst als Schülerin und Schüler, dann als Lehrkraft; zumindest zu Beginn ihrer beruflichen Karriere. Zusätzlich ist man sich auf der Kapitänsbrücke bewusst, dass man eine Exitstrategie hat, sollte die Mittelschulfamilie in ernsthafte Gefahr kommen: Eine ministerielle Anweisung genügt und die Schotten werden gesenkt. Der Kurs wird gehalten!
Leider erhöhten sich die Warnhinweise in der Vergangenheit drastisch. Oft und lautstark wurde die Brücke damit konfrontiert: Lehrermangel, Lehrermangel, Lehrermangel. Immer wieder las der Kapitän, dass es massive Eisberge auf der Route der Mittelschule gibt, die das Schiff in ernsthafte Gefahr bringen könnten. Diese wurden zur Kenntnis genommen, abgeheftet, aber ignoriert. Der Kurs wurde gehalten! Die Mittelschule gilt als unsinkbar. Und wenn doch etwas das Schiff gefährden könnte, hat man schließlich die Exitstrategie, genannt Schotten!
Die Neueste präsentierte das Kultusministerium mit seinem KMS „Maßnahmen zur Sicherung der Unterrichtsversorgung an Grund- und Mittelschulen im Schuljahr 2021/22.“
„Aufgrund des weiterhin bestehenden erhöhten Personalbedarfs an Mittelschulen können zum Schuljahr 2021/2022 Personen, die einen Master-, Diplom- oder Magisterabschluss vorweisen, den Vorbereitungsdienst absolvieren und somit die Lehramtsbefähigung für das Lehramt an Mittelschulen erwerben.“
Was auf den ersten Blick wie eine verlockende Stellenausschreibung aussieht, zeigt seine inhaltliche Botschaft ziemlich deutlich: Eisberg direkt voraus! Dieser Kollision können wir nicht entgehen – deswegen lassen wir schon vorab die Sicherheitsschleusen herab. Oder, herausgelöst aus dem Vergleich mit der Titanic und deutlicher gesprochen: Wir haben keine Lehrkräfte, um das komplette Unterrichtsangebot an Mittelschulen aufrecht zu erhalten, deswegen darf jetzt jeder ran, der einen der oben genannten Universitätsabschlüsse vorweist. Dennoch muss der Kurs gehalten werden!
Das Ministerium grenzt zwar das eventuelle Bewerberfeld ein und gibt bekannt, dass als Voraussetzung für die Sondermaßnahme ein Abschluss im Hauptfach in mindestens einem der folgenden Fächer absolviert wurde: Deutsch, Deutsch als Fremdsprache, Englisch, Informatik, Physik, Chemie, Biologie oder Mathematik. Diejenigen, die einen Abschluss in Geschichte, Politikwissenschaft oder Geografie erzielten, können sich für eine Nachrückerliste bewerben.
Es wirkt wie das letzte Aufbäumen des Ministeriums. Der letzte Versuch alles dafür zu unternehmen, den eingeschlagenen Kurs nicht korrigieren oder aufgeben zu müssen.
Die Warnungen liegen alle seit Jahren auf dem Kapitänsdeck. Der Eisberg ist in Sichtweite voraus. Die Unterrichtsversorgung kann nicht mehr mit dem vorhandenen Lehrpersonal vollständig gewährleistet werden. Dennoch wird der Kurs gehalten. Hoffen wir, dass die Rettungsschotten beim Herablassen dafür sorgen, dass das Schiff, die Mittelschule, sich weiterhin über Wasser hält. Gleichwohl es danach manövrierunfähig werden könnte. Hoffen wir, dass für das Kultusministerium die Bildungssicherung unserer Mittelschülerinnen und Mittelschüler wichtiger ist, als ein eventueller Imageverlust, dass man den Kurs doch ändern und den Warnungen der Vergangenheit recht geben musste.
Denn eines ist sicher: Der Mittelschule fehlen JETZT die Lehrkräfte und die Schuld daran haben sicher nicht, wie so oft dargestellt, die Schulen selber sondern diejenigen, die für die Bereitstellung, Ausbildung und Einstellung der Kolleginnen und Kollegen verantwortlich sind. Schlichtweg die bayerische Politik, die seit Jahren auf dem Ohr taub zu sein scheint, in das die Verbände, Lehrkräfte und Schulleitungen zu Hauf riefen und eine Attraktivitätssteigerung unseres Berufsstandes forderten, damit wieder mehr junge Erwachsene dieses Studium ergreifen.
Diese Entprofessionalisierung des Lehrpersonals, die mit dieser „Lösung“ des Ministeriums einhergeht, kann sich anscheinend auch nur der Mittelschulbereich gefallen lassen müssen. Würden Sie sich von einem Menschen operieren lassen, der kein Medizinstudium abgeschlossen hat?
Eisberg direkt voraus! Für die Titanic war es leider zu spät. Die Schäden der Eisbergkollision waren zu groß. Wider den Erwartungen retteten die Schotten das Schiff nicht. Sie ging unter.
Eisberg direkt voraus! Für die Mittelschule...
Christian Gingele
Christian Gingele, Kommunikationskoordinator