Generation Bildungsverlierer? Nicht mit uns!

Ein Kommentar der Abteilungen Schul- und Bildungspolitik, Berufswissenschaft und Kommunikation

Schule ist Lebensraum und gemeinsamer Lernort. Es ist unser Auftrag, allen Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihrer Herkunft und ihren sozialen Verhältnissen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu gewähren. Es ist unser Anspruch, allen Schülerinnen und Schülern ein bestmögliches Förderangebot zu machen, auch wenn die Rahmenbedingungen dafür oft alles andere als optimal sind. Schule ist auch Schutzraum.

Wir stellen mit großer Sorge fest:

Trotz beispiellosen Einsatzes und großer Anstrengungen unserer Lehrkräfte, Schulleitungen und schulischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können nach wie vor nicht alle Schülerinnen und Schüler mit gleichen Chancen am Distanzunterricht teilnehmen. An vielen Münchner Grund-, Mittel- und Förderschulen gibt es eine erhebliche Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in den Phasen des Distanzunterrichts sehr schlecht oder gar nicht erreicht und damit weitgehend abgehängt wurden.

Wir wissen:

Im März 2020 musste schnell gehandelt werden. Die erste Infektionswelle musste unbedingt gebrochen werden. Die angeordnete Schulschließung war ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Gesundheit aller Beteiligten und zur Abschwächung des gesamten Infektionsgeschehens.

Zugleich war uns bewusst, dass die bisher vermittelten Kompetenzen im Bereich digitaler Medien in der Regel nicht das Niveau erreicht hatten, welches für einen Distanzunterricht Voraussetzung ist. Es rächte sich nun, dass in den Jahren „vor Corona“ stets anderes im Vordergrund stand. So wurden auch die Schulen, ungeachtet ihrer Medienkonzepte, überwiegend kalt erwischt.

Zudem findet unsere Schülerschaft sehr unterschiedliche Voraussetzungen im Elternhaus vor. Fakt ist seit Jahrzehnten, dass der Zusammenhang zwischen erfolgreicher schulischer Bildung und sozialer Herkunft in kaum einem industrialisierten Land Europas größer ist als in Deutschland.[1]

Diese Problematik wird in Zeiten von Distanzunterricht zusätzlich verschärft, da der Zugang zu digitalen Endgeräten in benachteiligten Familien oft nur rudimentär gegeben ist. Konkreter: Ein verlässlicher Zugang zum wichtigsten Kommunikationskanal fehlte bei Tausenden Münchner Schülerinnen und Schülern. Viele waren mangelhaft oder nicht versorgt, teilten sich beispielsweise mit mehreren Geschwistern das Smartphone der Mutter. Ebenso groß dürfte der Bedarf an Druckern gewesen sein - letzterer ist es wohl immer noch.

Und das alles, obwohl der freie Zugang zu Bildung ein Menschenrecht ist! [2] Auch im Distanzunterricht?

Was für ein Dilemma! Die Reaktion waren enorme Anstrengungen der Stadt München zum Kauf digitaler Endgeräte. Dieses Programm ist im Februar 2021 noch immer nicht abgeschlossen. Bislang wurden ca. 8200 Geräte ausgeliefert. Der Bedarf ist noch deutlich größer. Aber: Der Weltmarkt ist leer. Auch München muss hier warten.

Last but not least haben unsere Schülerinnen und Schüler eine sehr individuelle schulische Vita. Misserfolge in der Vergangenheit, Ängste und ausgeprägte Verhaltensmuster in der Schule haben natürlich auch im Distanzunterricht einen starken Einfluss auf das Lernverhalten. Kinder und Jugendliche, die in dieser Situation nicht intensiv von ihren Eltern begleitet und unterstützt werden können, sind doppelt benachteiligt.

Wir warnen vor den Folgen!

War die Angst vor schulischem Versagen bei Schülerinnen und Schülern bereits groß, wird sie nach Corona noch größer sein.

War das Deutsch vieler unserer Schülerinnen und Schüler bereits vor Corona schlecht, wird es nach Corona nicht besser sein.

Hatten Schülerinnen und Schüler bereits vor Corona Probleme, sich für ein Lernthema intrinsisch zu motivieren, dann wird dies auch nach Corona eine pädagogische Herausforderung bleiben.

Reichen dieses Jahr die Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler nur gerade zum Bestehen des Klassenziels, wird dies im kommenden Schuljahr noch härter zu Buche schlagen.

War das Leistungsvermögen der Klasse bereits heterogen, wird die Schere in Zukunft noch weiter aufgehen.

Hatten Lehrkräfte bereits vor Corona kaum mehr Zeit zur individuellen Differenzierung, dann wird diese Zeit auch nach Corona fehlen.

Standen wir Lehrkräfte schon vor Corona allein im Klassenzimmer, dann werden wir auch nach Corona auf zu wenige, doch eigentlich so notwendige zusätzliche personelle Ressourcen zurückgreifen können.

Wir sehen auch Gründe zur Hoffnung:

Der Stellenwert der Digitalisierung im Schulwesen ist so stark wie nie im Bewusstsein der politisch Verantwortlichen und der Öffentlichkeit. Viel Geld wird investiert, Entwicklungsrückstände aus Jahrzehnten werden in Monaten deutlich verringert. Mit Hilfe geeigneter digitaler Medien und dem gezielten Einsatz digitaler Lernprogramme wird auch „nach Corona“ individuelle Förderung besser möglich sein denn je.

Allmählich erkennt auch unser Dienstherr an, dass es nicht mehr zeitgemäß ist, selbstverständlich zu erwarten, dass die Lehrkräfte dringend nötige Arbeitsausstattung in ihrem „Homeoffice“ wie leistungsfähige Endgeräte und Handys selbst finanziert bereitstellen.

Wir Lehrkräfte sind nicht nur unserer Pflicht nachgekommen. In kurzer Zeit haben wir enormes Knowhow aufgebaut, haben kreative Lösungen entwickelt und in dieser Krise unser Bestmöglichstes getan, um dem eigenen Anspruch von Bildungsgerechtigkeit gerecht zu werden.

Unsere Schülerinnen und Schüler haben sich mit grundlegenden digitalen Tools vertraut gemacht und viele sind deutlich selbstständiger geworden. Jetzt sehnen sie sich nach Schule. Sie wissen um ihre Situation. Keiner will Verlierer sein!

Viele Schülereltern haben einen tiefen Einblick erhalten, was Unterrichten bedeutet.

Die Hoffnung aller Kinder und Jugendlichen und deren Eltern liegt aber jetzt auf der Schule. Vor Ort.

Wir fordern:

Distanzunterricht kann für alle nur gelingen, sofern...

  • Lehrkräfte selbst über das nötige Wissen verfügen und den Rücken dafür frei haben, ihren Schülerinnen und Schülern in einem didaktisch und methodisch klugen und gewinnbringenden Setting solide Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln
  • der Zugang aller Schülerinnen und Schüler zu angemessener digitaler Ausstattung zuhause gewährleistet ist
  • der Schule genügend Personalressourcen auch im Rahmen multiprofessioneller Teams sowie Kommunikationsmedien wie hochleistungsfähige Internetverbindungen, Kameras und Headsets, aber auch Telefonanschlüsse und Diensthandys zur Verfügung stehen, um Kinder und Jugendliche bei Bedarf aus der Ferne intensiv begleiten zu können und
  • alle Lehrkräfte auch zuhause über die notwendige dienstliche Ausstattung verfügen.

Präsenzunterricht kann die entstandenen Verwerfungen nur beheben, wenn...

  • Kindern und Jugendlichen nicht nur eine begrenzte Phase des „Ankommens“ eingeräumt wird
  • Schülerinnen und Schüler langfristig ein hohes und verlässliches Maß an individueller Förderung und Differenzierung erhalten. Dazu gehören auch leistungsfähige digitale Tools, die vom Dienstherrn umgehend zu beschaffen sind.
  • vom Dienstherrn Kooperationen eingegangen werden. Während Corona gründeten sich viele professionelle Start-Ups. Hier liegen passgenaue Lösungen auf dem Tisch.[3] 
  • dafür genügend Lehrkräfte, Fach- und Förderlehrkräfte zur Verfügung stehen. Hierfür müssen diese Berufe dringend attraktiver gestaltet werden!
  • kurz- und mittelfristig eine hohe Zahl an qualifizierten Drittkräften den Lehrermangel abmildert. Für die Akquise, Einstellung, Qualifikation und Personalführung von Drittkräften muss sofort eine staatliche Agentur gegründet werden! Schulleitungen haben hierfür keine Ressourcen.

Simone Fleischmann hat Recht! Wir können nur so viel geben, wie wir sind. Die beschriebenen Auswirkungen des Distanzunterrichts werden noch für einen langen Zeitraum als Realität im Klassenzimmer spürbar sein. Um dieser zweiten Krise begegnen zu können, benötigt Schule abermals die Voraussetzungen dafür.

Hoffentlich haben alle Beteiligten genug aus der ersten Krise gelernt.

[1] Vgl. OECD-Ländervergleich (compareyourcountry.org), 2018

[2] Vgl. Lohrenscheit (CC BY-NC-ND 3.0 DE) unter Bezug auf Sozialpaktausschuss der Vereinten Nationen (1999): „(…) Keinem Menschen darf der Zugang zu Bildung rechtlich und faktisch verwehrt werden. Insbesondere für die schwächsten Gruppen muss Bildung frei zugänglich sein (…), was beispielsweise behinderte Kinder und Kinder aus armen oder sozial benachteiligten Familien besonders betrifft. (…)“

[3] Als Beispiel darf hier erwähnt sein: Florian Schmidt gründete mit einem Münchner Team (Stiftung, IT-Entwicklung, Studenten, Lehrkräfte) im April 2020 das Start Up „EduCoach“ (www.myeducoach.de), welches bereits in Schulen getestet wird.