„Wenn die Freiheit plötzlich weg ist …“
Der Zeitzeuge Thomas Raufeisen erzählte seine außergewöhnliche Geschichte vor interessiertem Publikum in der Grundschule Berg am Laim. Ein Projekt des Arbeitskreises Demokratie und des Bildungslokals Berg am Laim-Ramersdorf.
Nur ausgewiesene Kenner der deutsch-deutschen Geschichte wissen noch, wer Werner Stiller war. Ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit, der aus Frust über die Beförderung seines Bürokollegen, den westlichen Geheimdiensten verriet, wer so alles in der Bundesrepublik für das andere Deutschland spioniert. Zur Belohnung und mit Hilfe des CIA wurden er und seine Freundin rausgeschleust. Ehefrau und Kinder ließ er zurück- nicht ohne dass diesen dadurch erhebliche Schwierigkeiten erwuchsen -, wurde die Ehefrau doch der Mitwisserschaft verdächtigt. Für die Bundesbürger war dies nur eine unter vielen Tagesschau-Nachrichten, dem Spionage-Zirkus des Kalten Krieges entsprungen. Für Thomas Raufeisen allerdings veränderte dieser „Vereinswechsel“ des Genossen Stiller fast alles.
Als 16Jährigen lockte ihn sein Vater mit Bruder und Mutter in die DDR unter dem Vorwand, der Großvater, der in Ahlbeck, einem Seeheilbad an der Ostsee lebte, sei schwer erkrankt. In Ostberlin angekommen, outete er sich als Wirtschaftsspion der DDR, der als Geophysiker Unternehmensgeheimnisse der Preussag Hannover an den Arbeiter- und Bauernstaat „weitergeleitet“ hatte. Durch Stiller drohte nun die Enttarnung.
Geahnt hatten die beiden Söhne davon nichts, auch wenn Spionage-Utensilien mitunter anstelle von Weihnachtsgeschenken in Schränken der elterlichen Wohnung aufgetaucht waren. Vater Raufeisen hatte dafür immer ganz plausible Erklärungen. Wer glaubt schon, dass sein Vater Spion ist.
Von seiner Odyssee durch den DDR-Alltag, Erlebnissen in Schule und Ausbildung oder dem angespannten Verhältnis zu den Eltern erzählte Thomas Raufeisen am 26.11.2019 in der Aula der Grundschule Berg am Laim einem äußerst interessierten Publikum. Raufeisen tut dies erstaunlich gelassen, ohne „Schaum vor dem Mund“ und in einer Sprache, die einen mitnimmt. Ab und zu liest er Auszüge aus seinem Buch „Ich wurde in die DDR entführt. Von meinem Vater. Er war Spion (Herder Verlag)“ vor und man erhält einen vertieften Einblick in das Leben eines ganz normalen Jugendlichen aus Hannover, der zwischen die Mühlsteine der Systeme gerät.
„Wenn die Freiheit plötzlich weg ist .. „ unter diesem Titel nahm der Zeitzeuge in den Folgetagen 13 Klassen des Stadtteils Berg am Laim mit auf eine Reise in die deutsch-deutsche Vergangenheit. Organisiert und finanziert wurde dieses Projekt vom Arbeitskreis Demokratie des MLLV bzw. der MLLV Bildungsstiftung und dem Bildungslokal Berg am Laim-Ramersdorf. Quartiersübergreifend trafen sich so Schüler aus verschiedenen Schulen und Schularten in den Mittelschulen am Inzeller Weg und an der Führichstraße. Die Atmosphäre war stets hoch konzentriert und interessiert. Eine Abendveranstaltung für Erwachsene ergänzte dieses Programm der politischen Bildung im Stadtteil. Es sollte am biographischen Beispiel des Zeitzeugen Raufeisen Schüler für etwas sensibilisieren, was heute zwar selbstverständlich, wenn auch nicht unzerstörbar ist: die persönliche Freiheit.
Raufeisen musste erleben, wie sein älterer Bruder, die DDR verlassen konnte (allerdings erst nach 11 Monaten Zwangsaufenthalt), weil er volljährig war und die DDR-Bürgerschaft nicht annahm. Anders kam es für den kleinen Bruder Thomas. Hier unterschrieben die Eltern den Antrag auf DDR-Staatsbürgerschaft. Ein eindeutig rechtswidriger Akt, selbst nach DDR-Gesetz. Der 16jährige Thomas hätte zustimmen müssen. Wohin aber gehen und klagen in einem Unrechtsstaat, in dem es keine unabhängigen Gerichte gibt und fertige Urteile schon vor dem Prozess vom Minister für Staatssicherheit Erich Mielke abgezeichnet werden?
So versuchten die Raufeisens, auch der Vater war schnell geheilt von seiner DDR-Schwärmerei, über die bundesrepublikanische Botschaft in Ungarn zu entkommen. Dort zeigte man kein Interesse an ihrem Schicksal, was rechtsstaatlich gesehen ein Skandal war. Man ließ Bundesbürger einfach im Stich. Sippenhaft für den Verrat des Vaters? Als dieser dann versuchte über US-Soldaten, die sich damals frei in Ostberlin bewegen durften - es galt noch das Alliierte Berlin-Statut- , mit dem CIA Kontakt aufzunehmen, schnappte die Falle endgültig zu.
Wie die Verhaftung verlief und wie mit Raufeisen im Stasi-Knast Hohenschönhausen umgegangen wurde, sollte man besser selbst nachlesen. Die Lektüre ist nicht nur spannend, sondern auch historisch höchst aufschlussreich. Für Interessierte ein Muss. 3 Jahr verbrachte Thomas Raufeisen in Bautzen, dem politischen Gefängnis der DDR. Die Mutter erhielt 7 Jahre, der Vater lebenslänglich. 1984 hat Thomas Raufeisen seinen Vater das letzte Mal gesehen. Er verstarb unter ungeklärten Umständen in der Haft. Der Sohn musste jeden Tag absitzen. Warum wurde er nicht freigekauft wie Tausende andere? Vier Wochen nach seiner Entlassung durfte er die DDR verlassen. Ein Telegramm an den älteren Bruder kam glücklicherweise an. Er holte ihn am Bahnhof Hannover ab. Das war 1984. Die Mutter kam 4 Jahre später. Die Urne des Vaters dann übrigens auch. Man hatte ihn vorsichtshalber verbrannt. Asche lässt sich schwer obduzieren.
Alles Vergangenheit? Wohl nicht. Den DDR-Totalitarismus haben die mutigen und freiheitsliebenden DDR-Bürger ohne Blutvergießen überwunden. Doch Freiheit wird einem selten geschenkt. Meist ist sie schwer erkämpft und ein kostbar zu hütendes Gut.
Raufeisens Geschichte müsste verfilmt werden. Bis dahin kann man sein Buch lesen oder ihn persönlich als Zeitzeugen anfordern unter: thomas@raufeisen.net . Es lohnt sich.
Ludwig Ziesche, AK Demokratie