Verantwortung lernen – BNE konkret
Wie wird Partizipation im Kindergarten gelebt?
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) kann nur gelingen, wenn Kinder und Jugendliche lernen Verantwortung zu übernehmen und ihre Welt mitzugestalten. Daher ist Partizipation eine wesentliche Säule des BNE-Konzepts der UNESCO.
Partizipation bedeutet, Planungen und Entscheidungen über alle Angelegenheiten, die das eigene Leben und das der Gemeinschaft betreffen zu teilen und gemeinsam Lösungen für auftretende Fragen und Herausforderungen zu finden.
Seit dem Jahr 2010 hat unsere Einrichtung den Schwerpunkt Partizipation.
Unser erster Schritt war, Aktivitäten grundsätzlich gruppenübergreifend anzubieten. Um die Kinder zu informieren, welche Auswahlmöglichkeiten existieren, brauchten wir ein Gremium, in dem wir die Aktivitäten ankündigen und erläutern können. Der Morgenkreis hat damit eine neue Bedeutung erlangt. Er dient nun dem gegenseitigen Austausch über Aktivitäten aber auch gewünschte Themen der Kinder, als auch als Abstimmungsforum, wenn Mehrheitsentscheidungen fällig sind.
Die Kinder können sich im gesamten Haus für ihren Spiel- und Lernbereich entscheiden. Sie bestimmen, wo sie wann was mit wem tun. Aber die Zeit des Mittagessens stellte einen harten Bruch dar. Denn egal, wie intensiv die Kinder gerade im Spiel waren, sie mussten es abbrechen, wenn nicht gar beenden, wenn das Mittagessen in den Gruppen stattfand.
Um diesen Bruch sanfter zu gestalten, d.h. um auch zu erfahren, aus welcher Situation die Kinder gerissen wurden, um ihnen gegebenenfalls einen Wiedereinstieg in ihr Spiel zu ermöglichen, führten wir den Sprechkreis vor dem Essen ein. Auch dieser entwickelte sich schnell zu einem Gremium, in dem die Kinder ihre Erfahrungen, Bedürfnisse aber auch ihre Beschwerden benennen konnten. Damit war das Personal schon sehr dicht an den Kindern. Sie beschwerten sich über Störungen im Spiel bzw. auch über fehlende Mittel.
2014 eröffneten wir die Anhörungs- und Beschwerdestelle, bei uns Kindersprechstunde genannt. Jeden Dienstag hatten die Kinder Gelegenheit, sich bei der Leiterin zu beschweren. Die Einladung dazu ist bewusst positiv gehalten. Es wird gefragt, ob es etwas gibt, was sie der Leiterin erzählen möchten. Es gibt wirklich einiges. Erzählt wird von Konflikten mit sich selbst, mit Freunden, innerhalb der Familie. Es gibt klare Fragen zur Gartennutzung, Öffnungszeiten des Werkraums und über die Unmöglichkeit, mit Freunden zu Mittag zu essen, wenn diese in anderen Gruppen sind. Jedes Angebot des Teams ist Thema, manchmal aber auch Entscheidungen oder Handlungen des Personals. Dabei ist die Kritik der Kinder immer konstruktiv und lösungsorientiert. Die Kinder sind sehr kooperativ und finden erstaunliche Lösungen für Probleme.
Die Themen der Kindersprechstunde werden im Team besprochen, welches Lösungsvorschläge erarbeitet.
Für das Mittagessen stellte sich als Lösung die Einführung eines Kinderrestaurants heraus. Wie bei der gleitenden Brotzeit haben die Kinder nun einen Zeitraum, in dem sie ihr Mittagessen einnehmen. Die Tischgesellschaft wählen sie selbst. Freunde kommen so zusammen, sie beenden ihr Spiel gemeinsam, wenn sie so weit sind.
Das Kinderrestaurant befindet sich in einem Gruppenraum von vieren. Alle übrigen Räume - dazu zählen drei Funktionsräume und zwei Gärten - sind weiterhin frei bespielbar. In einer Kinderbefragung stimmten die Kinder nach zwei Monaten ab, welche Variante des Mittagessens ihnen lieber ist. Sie entschieden sich für das Kinderrestaurant und gaben Begründungen dazu an, die uns überraschten.
Der Sprechkreis findet nun nach dem Mittagessen statt, weil die Kinder ihn als Gremium wieder einforderten.
Der Entscheidungsfreiraum wächst von Jahr zu Jahr. Befürchtungen, dass Kinder weniger gefördert, übersehen oder vernachlässigt werden, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: die Kinder treten selbstbewusster auf, sie fragen und hinterfragen, sie bringen ihre Ideen ein, sie zeigen sich als Gestalter ihrer Bildung. Sie wollen lernen und fordern aktiv das Personal als Unterstützer ein.
Sie gehen in ihren Kompetenzen gestärkt in die Grundschule. Sie berichten mit Bedauern, bei ihren Besuchen im Kindergarten, dass die Grundschule keine Anhörungs- und Beschwerdestelle hat. Dabei haben sie viele Ideen einzubringen.
Karin Bitter Die Autorin ist Mitglied der Fachgruppe SuE des MLLV und leitet einen Kindergarten mit 100 Plätzen im Münchner Süden.