Der „Junge vom Saturn“ zu Gast im Hasenbergl

Fortbildung zum Asperger-Syndrom im Wichern-Zentrum Der bundesweit bekannte Asperger-Autist Dr. Peter Schmidt gibt Fachkräften einen faszinierenden Einblick aus der Sicht eines Betroffenen und beschreibt, wie die Schule autistischen Kindern besser gerecht werden könnte – und was sie besser nicht machen sollte.

Was ist das schlimmste Spiel, das man einem Autisten „antun“ kann als Pädagoge? Es sind Fragen wie diese, die die Zuhörer am 12.10.2018 im Wichern-Zentrum München in den Bann ziehen und über 2 ½ Stunden faszinieren. Dr. Peter Schmidt, promovierter Geophysiker und IT-Spezialist, erfuhr erst mit 41 Jahren, dass er Asperger-Autist ist. Damit wurde ihm klar, weshalb vieles in seinem Leben „anders“ gelaufen ist. Warum er sich etwa in der Kommunikation mit anderen Menschen so schwer tat. Und die Anderen mit ihm. Warum er die Verhaltensweisen von Lehrern und Mitschülern nicht richtig verstand. Warum er vieles in der Schule ungerecht und unlogisch fand. Und wie stolz er heute sein kann auf das Erreichte.

Seitdem machte es sich der „Logiker“ zur Aufgabe, die Gesellschaft über das Leben von Asperger-Austisten aus der Sicht eines Betroffenen, aus seiner Sicht, aufzuklären. Ohne Anspruch auf Gültigkeit für alle. Aber eben doch exemplarisch. Damit wirft Schmidt eine grundlegende Frage der Inklusion auf: Wie gehen wir mit Kindern in unseren Schulen um, die anders wahrnehmen, sich anders verhalten, soziale Situationen anders erleben, die Gefühle wie Angst, Wut, Trauer und Freude wie alle Menschen fühlen, diese aber eben anders getriggert und ausgedrückt werden als bei dem Mainstream, die sich an Ritualen und Routinen festhalten und darin Halt suchen und finden, die spezifische Interessen haben (so z. B. das „Sammeln von Straßen“), die auf den Schulgängen nur rechts gehen können wie im Straßenverkehr, deren gemalte Personen kein Gesicht haben, die Kommunikation nicht „in Farbe“, sondern „in schwarz-weiß“ erleben, so Schmidt.

So kennt man Peter Schmidt aus zahlreichen Fernsehbeiträgen sowie durch seine Bücher, die auch in den Bestseller-Listen vertreten waren: „Der Junge vom Saturn. Wie ein autistisches Kind die Welt sieht“, „Ein Kaktus zum Valentinstag. Ein Autist und die Liebe“, „Kein Anschluss unter diesem Kollegen. Ein Autist im Job“ sowie „Der Straßensammler – Die unglaublichen Erlebnisse eines autistischen Weltreisenden“.

Je länger man Dr. Schmidt zuhört, desto mehr wird klar: Dies ist – ob gewollt oder nicht – ein Plädoyer für eine Schule, die echten Raum für individuelle pädagogische und didaktische Lösungen, Toleranz für Anderssein zulässt. Die eben keinen pädagogischen Konsequenzenkatalog für alle Kinder bereithält, sondern fragt, warum das jeweilige Kind so oder so agiert, denkt, fühlt, sich verhält. Und was es eben für dieses Kind für Hilfen, Halt gebende Strukturen, vielleicht auch Ausnahmen, Grenzen und Konsequenzen braucht. Arrangements, die auf die besondere „Logik“ des autistischen Kindes eingehen und es ihm damit erst ermöglichen sich einzufügen. Immer mit Wertschätzung, einer Haltung der Annahme des Einzelnen und dem Willen, das autistische Kind zu verstehen. Soweit es geht jedenfalls. Es kann immer nur eine Annäherung sein. Aber meist reicht das schon, damit eine positive Beziehung aufgebaut werden kann.

Die Zuhörer des Vortrags werden die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem am Wenigsten für Autisten passenden Spiel nicht so schnell vergessen: Es ist die „Reise nach Jerusalem“. Alles unlogisch, verunsichernd und himmelschreiend ungerecht. Ohne Regeln und die subjektive Sicherheit verletzend. Es geht zunächst einmal nicht – wie es logisch wäre - nach Israel. Sondern es werden sinnfrei Stühle aufgestellt. Dann auch noch zu wenig. Die Anzahl der Kinder passt nicht zur Anzahl der Stühle. Regeln werden nicht klar benannt, wie um den vakanten letzten Stuhl „gekämpft“ werden soll. So bleibt der kleine Peter im Rennen, bis nur noch zwei Stühle übrig sind. Er wird immer rabiater und verunsicherter. Sein Ziel soll es doch sein, immer einen Platz zu erlangen. Das „Wie?“ wurde nicht näher besprochen. Bis der kleine Peter das andere Kind schließlich schlägt, um einen Stuhl zu erobern. Was folgt ist eine Befreiung. Dr. Schmidt nennt es heute „belohnende Strafen“. Er muss in die Ecke und hat endlich seine Ruhe, weil er nicht mehr mitspielen darf. Auch daraus lernt er. Beim nächsten Spiel der „Reise nach Jerusalem“ an einem anderen Tag holt er sich seine „belohnende Strafe“ gleich in der ersten Runde des Spiels ab. Er schlägt wieder zu und entgeht diesem für ihn unlogischen, verunsichernden und himmelschreiend ungerechten Spiel. Und ist wieder draußen.

Es ist und bleibt eine pädagogische Herausforderung, der Gruppe und dem Einzelnen gerecht zu werden. Und eine der Gretchenfragen von Inklusion. Gerade im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Das Fortbildungs- und Beratungszentrum des Wichern-Zentrums und der Wichern-Schule wird auch weiterhin Betroffenen eine Stimme geben. Dass nicht nur Experten-Vorträge wichtige fachliche Impulse geben können, hat Dr. Peter Schmidt an diesem Tag eindrucksvoll bewiesen.

Dr. Stefan Baier Wichern-Zentrum München Wichern-Schule München, Förderzentrum emotionale und soziale Entwicklung, Profilschule Inklusion

LINKS

Kontakt: baier(at)diakonie-hasenbergl.de

Homepage: https://www.diakonie-hasenbergl.de/kinder-jugendliche-eltern/wichern-zentrum.html

Kolleginnen und Kollegen aus Schule, Jugendhilfe, Fachdiensten und Therapeuten warten gespannt auf die Ausführungen von Herrn Dr. Peter Schmidt, dem erst mit 41 Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. (Foto: Dr. Peter Schmidt)

Dr. Stefan Baier, Schulleiter am Wichern-Zentrum München, Dr. Peter Schmidt, Asperger-Autist und Referent aus Betroffenenperspektive, und Mathilde Reymendt, Kollegin des Fortbildungs- und Beratungszentrums sowie der ADHS-Beratungsstelle der Wichern-Schule (von links) vor dem Vortrag (Foto: Dr. Peter Schmidt)