Demokratieerziehung statt Leitkultur

Es gibt eine Stimmenthaltung bei der Abstimmung über das Wandertagsziel in der Klasse 7b. Suha, ein 15- jähriges Flüchtlingsmädchen aus Aleppo hat sich nicht gemeldet. Als die anderen Schüler in die Pause verschwunden sind, suche ich das Gespräch mit ihr. „Nein, es ist mir nicht egal, wohin wir gehen“, sagt sie mir. Sie wusste ganz einfach nicht, ob es angebracht war sich zu melden, sie wollte nichts falsch machen, so etwas kenne sie nicht.

Auch für einen Lehrer setzt an dieser Stelle ein Lernprozess ein. Die politische Grundlage des demokratischen Prinzips, die Entscheidungsherbeiführung durch Mehrheitsfindung, in einer migrationsbedingt kulturell heterogenen Klasse als selbstverständlich vorauszusetzen, kommt mir im Nachhinein selbst etwas naiv vor. Es zeigt mir aber Eines: Auch demokratische Werte, demokratisches Verhalten und seine Anwendung müssen anerzogen und in emotional affektiv konnotierten Lernprozessen erworben werden.

Das gilt sowohl für immigrierte als auch für von Geburt an präsente Gesellschaftsmitglieder. Diese Handlungskompetenz in und im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erwerben muss auf zwei Ebenen -sozial und politisch- stattfinden.

Auf der Ebene des sozialen Lernens ist es unheimlich wichtig, ein Klima zu schaffen, in dem sich alle Schülerinnen und Schüler selbst als wichtigen Teil der Klassengemeinschaft wahrnehmen. Gleichzeitig müssen sie aber auch einsehen, dass sie innerhalb dieser Gemeinschaft in ihrem Verhalten und ihrer Bedürfniserfüllung zwar frei sind, dass ihre Freiheit aber dort Grenzen findet, wo sie –nach Immanuel Kant- durch ihr Verhalten die Freiheit anderer Gemeinschaftsmitglieder einschränken. Im Grunde bedeutet das nichts anderes als den Erwerb von Softskills – sozialer Grundtugenden wie: niemanden zu beleidigen, zu schlagen, auszugrenzen, Konflikte gewaltfrei zu lösen, Regeln anzuerkennen und sie als gemeinschaftstragend zu akzeptieren, sich für Schwächere einzusetzen, zu grüßen, mitwirken, mitentscheiden und mitmachen zu wollen, Mehrheiten anzuerkennen, Minderheiten zu akzeptieren, Niederlagen auszuhalten und Entscheidungen, welche entgegen der eigenen Meinung von der Mehrheit abgestimmt wurden, im Sinne der Gemeinschaft verantwortungsbewusst mitzutragen, womit wir aber bereits die politische Ebene von demokratischer Handlungskompetenz erreicht hätten.

Auf dieser politischen Ebene muss es natürlich unser Ziel bleiben Schüler zu politisieren und sie zu einer Partizipation zu bewegen, die über das reine „Zur-Wahl-Gehen“ hinausgeht. Politisch handlungskompetent sind aber auch junge Menschen, die es schaffen, sich von Extremansichten abzuwenden. Denn in Zeiten, in denen rechtsradikale Rattenfänger an allen Ecken lauern, in denen islamistische Fundamentalisten eine ungeahnt hohe Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen und versuchen Kinder und Jugendliche online zu radikalisieren und in Zeiten, in denen Rechtspopulisten einen alarmierend hohen Zulauf zu verzeichnen haben, ist Extremismusprävention ein wichtiges Stichwort, wenn es um politische Handlungskompetenz geht. An dieser Stelle muss natürlich bei unseren Schülern und Schülerinnen eine wertschätzende Haltung gegenüber demokratischen Ordnungssystemen und all ihren Privilegien, wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit angebahnt werden.

Welche Möglichkeiten gibt es in der Schule, sowohl die soziale, als auch die politische Ebene von demokratischer Handlungskompetenz zu bedienen?

Auf der Verhaltensebene ist es unerlässlich, Schülern zu helfen, ein positives Selbstkonzept zu entwickeln. Nur selbstbewusste Schüler, die sich als wichtigen Teil einer Gemeinschaft begreifen, sind schwer zu marginalisieren und dadurch später auch weniger anfällig für extremistische Randgruppen. Unsere Schüler brauchen aber auch Partizipationsmöglichkeiten, nicht unbedingt im politischen, aber dringend im gemeinschaftstragenden Sinn. Sie müssen sich mit ihren künstlerischen, sportlichen oder handwerklichen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen können, wodurch sie Wertschätzung erfahren, die sich wiederum positiv auf ihr Selbstkonzept auswirkt. Zugleich müssen sie die Erfahrung machen, sich in ihrer Gemeinschaft – natürlich immer innerhalb eines unverhandelbaren Regelrahmens- selbstbestimmt bewegen zu können. Schüler dürfen Kritik äußern und müssen in dieser ernstgenommen werden, sie dürfen ihren Standpunkt verteidigen und müssen die Erfahrung machen, dass sie auch wenn sie eine Mindermeinung vertreten, weiterhin respektierte Gemeinschaftsmitglieder bleiben. Da demokratische Gemeinschaften und Gesellschaften zudem niemals homogener sondern immer heterogener Art auftreten, ist es unheimlich wichtig Schülern schon früh zu vermitteln, allen Gemeinschaftsmitgliedern gegenüber, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Ethnie, Religion und Überzeugung, wertschätzend, tolerant und empathisch aufzutreten.

Politikpädagogisch muss die Anbahnung eines Historizitätsbewusstseins im Vordergrund stehen. Schüler und Schülerinnen müssen begreifen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung, in die sie entweder hineingeboren wurden oder zu der sie durch Migration hinzugestoßen sind, nicht von heute auf morgen selbstverständlich greifbar war. Vielmehr ist sie einem jahrhundertelangem Prozess des „Gewordenseins“ unterworfen, in welchem viele Fehler gemacht wurden und gebüßt werden mussten. Diese Prozesshaftigkeit ist aber nicht nur auf die Vergangenheit in Verbindung zur Gegenwart, sondern auch auf die Gegenwart in Verknüpfung mit der Zukunft zu beziehen. Somit ist unsere Gesellschaft einem ständigen Wandel unterworfen, der für all ihre Mitglieder einen Orientierungsanker unabdingbar macht. Die Tatsache, dass unsere Grundordnung als Anker zwar stark und wehrhaft ist, dass sie sich aber immer wieder Extremansichten und Anfeindungen ausgesetzt sieht, muss uns dazu veranlassen, in unseren Schülern das Verantwortungsbewusstsein zu initialisieren, sich aus dieser Grundordnung heraus für sie zu engagieren. Um diese Verantwortung übernehmen zu können müssen Schüler mit politischen Grundkenntnissen zu Prozessen und Institutionen ausgestattet werden. Dabei ist jedoch behutsam und äußerst kleinschrittig sowie lebenswirklichkeitsorientiert vorzugehen. Schüler, die sich von politischen Inhalten überfordert fühlen wenden sich oft enttäuscht, desinteressiert und manchmal auch beschämt ab. Es schließt sich eine Tür, die später oft von Leuten mit radikalen politischen Ansichten geöffnet wird, indem sie die Schuld am politischen Ohnmachtsempfinden dem Establishment zuschieben.

Die beiden Ebenen von demokratischer Handlungskompetenz sind nicht isoliert voneinander zu betrachten oder zu vermitteln, vielmehr gehen sie miteinander einher und bauen aufeinander auf. Wenn wir es schaffen, sie im Fachunterricht, in Projekten, auf Exkursionen über ein wertschätzendes Schulklima oder die Arbeit in der SMV als Partizipationsinstrument gewinnbringend zu kombinieren, können wir guten Mutes sein, in unseren Schülern als zukünftige Träger der Gesellschaft demokratische Werte anbahnen zu können, um diese als Grundlage für unsere freie Gesellschaft auch in Zukunft weiterleben zu lassen. Denn intrinsisch motiviert gewachsenen Haltungen auf der Basis eines wertschätzenden Gemeinschaftsgefühls sowie einer Transparenz politischer Inhalte leisten einen nachhaltigeren Beitrag zur Akzeptanz unserer Grundordnung als ein auf Zwang beruhendes Verstärkungs- und Bestrafungssystem. Die Diskussion über das Überstülpen einer deutschen Leitkultur könnte demnach von intensiven Überlegungen abgelöst werden, Demokratieerziehung in der Kombination von sozialem und politischem Lernen in unserem Schulsystem griffiger, offizieller und wertschätzender zu verankern.

Georg Tischler, Multiplikator für „mehrWERT Demokratie“