„Demokratie ist nicht selbstverständlich, jeder Einzelne ist mitverantwortlich!“

Ein Interview mit Dr. Hans-Jochen Vogel zum Thema Politische Bildung 

Die Beziehung des deutschen Politikers und MLLV–Ehrenmitglieds Dr. Hans-Jochen Vogel zum Münchner Lehrerinnen- und Lehrerverband reicht über 60 Jahre zurück. Es war ein enger Kontakt, der dann eine Zeit lang lockerer war, sich aber in den letzten Jahren wieder gefestigt hat. Da auch für ihn die Frage nach politischer Bildung im Schulbereich sehr dringlich sei, erklärte sich Dr. Vogel bereit, dieses Interview mit dem MLLV zu führen. Wie immer perfekt vorbereitet machte der ehemalige Oberbürgermeister von München zunächst ein paar Eingangsemerkungen zum Thema Demokratie.

„Ich gehöre noch zu einer Generation, für die Demokratie nicht selbstverständlich war. Ich bin unter einer totalen Diktatur aufgewachsen und war natürlich in der Hitlerjugend und dann als Soldat im Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat meine Generation am Aufbau einer belastbaren Demokratie beigetragen. Heute meinen zu viele die Demokratie und der Rechtsstaat seien selbstverständlich. Heute ist unsere Demokratie auch nicht in einer Krise, aber sie ist nicht mehr ungefährdet!

Dafür sehe ich folgende Ursachen:

Erstens weltweite Spannungsverhältnisse mit anderen politischen Strukturen. Die Weltlage war über jahrzehntelang gekennzeichnet durch die Ost-West Spannung, die gehört inzwischen der Vergangenheit an. China rückt in eine immer bedeutendere Stellung, was keine Gefährdung ist, aber es ist ein Zeichen für weitgehende Veränderungen. Auch unser Verhältnis zu Russland hat eine Entwicklung angenommen, die ich so nicht für möglich gehalten habe. Wir haben den Russen durch den Zweiten Weltkrieg Furchtbares angetan, 22 Millionen Tote. Wir haben außerdem die deutsche Einheit ganz wesentlich auch Gorbatschow zu verdanken und haben damals den Eindruck erweckt, dass die Westgrenze der NATO nicht beliebig nach Osten hinausgeschoben werden wird. Sie ist aber in einer Weise hinausgeschoben worden, die mich an Stelle der Russen beunruhigen würde. Wir haben eine Vielzahl von weltweiten Herausforderungen, die nur noch global angegangen werden können. Ich bin ziemlich ahnungslos, was die digitale Welt angeht. Ich habe kein Handy und versende keine Mails, sondern schreibe Briefe. Aber mir ist völlig deutlich, dass diese digitale Entwicklung eine weltweite Herausforderung darstellt, über deren Tragweite wir uns noch nicht genügend im Klaren sind.

Zweitens haben wir auf der europäischen Ebene einen merkwürdigen und bedauerlichen Rückfall in nationalistische Vorstellungen.

Auch bei uns ist mit der AFD eine Partei hervorgetreten, die nationalistische Vorstellungen vertritt. Und sie ist eine Partei, die Menschen auf sich zieht, die Protest loswerden wollen. Es sind nicht alles rechtsextreme Menschen, sondern Menschen, die unzufrieden sind. Innerhalb dieser Partei gibt es aber schon Leute, die man durchaus als Rechtsextreme bis an den Rand der Verfassungswidrigkeit hin bezeichnen kann, allen voran Herr Höcke. Dieser Herr hat eine Rede gehalten, in der der Satz von dem Mahnmal der Schande vorkam. Das ist verflucht doppeldeutig. Er meinte aber nicht, dass es ein Mahnmal für unsere Schande ist, sondern dass es eine Schande ist, dass wir dieses Mahnmal haben.

Dass so eine Partei nun im Bundestag drittstärkste Kraft ist und schon fast überall in Landtagen sitzt, ist für unser Land eine große Herausforderung.

Eine Herausforderung ist auch die fortschreitende Ökonomisierung von Lebensbereichen, die bislang anderen Regeln folgten, ein Beispiel dafür ist der Fußballsektor. In meiner Jugend war Fußball ein Sport, den die Menschen aus Bewegungsfreude getrieben haben. Heute geht es um Milliardenbeträge. Auch kann ich verstehen, dass Städte Olympiabewerbungen ablehnen, weil sich die olympische Idee zu sehr ökonomisiert hat. Diese Ökonomisierung führt auch dazu, dass kapitalmächtige Unternehmen mehr Macht ausüben können als nicht wenige Staaten. Wenn diese Unternehmen selber entscheiden wo und wie viel Steuern sie zahlen, dann ist das ein Ergebnis ihrer monopolistischen Stärke und nicht demokratisch legitimierter Staatsentscheidungen. Außerdem werden die sozialen Kluften weltweit größer, was eine der zentralen Flüchtlingsursachen ist.

Auch bei uns ist die soziale Kluft gewachsen. Als Beispiel möchte ich nennen, dass die Höchstgrenze für das Einkommen eines Vorstandsmitglieds eines großen Unternehmens jahrzehntelang das 20-fache dessen betrug, was ein normaler Arbeiter im Unternehmen bekam. Heute kriegen sie das 300-fache und mehr.

Nun möchte ich den Sinn der Demokratie erläutern.

Der Sinn der Demokratie ist, den Menschen ein erträgliches Leben in Freiheit und Frieden zu ermöglichen und eine Gesellschaft hervorzubringen, die Verbesserungen anstrebt, die Herausforderungen erkennt und bewältigt. Diese Definition entspricht meiner alltäglichen Lebenserfahrung am meisten. Demokratische Politik muss den Menschen ein erträgliches Leben bieten.

Ich mag es nicht, dass heute mehr und mehr von Politikverdrossenheit geredet wird, denn eine Politik, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufbau der Städte, die Integration der Flüchtlinge, den wirtschaftlichen Aufschwung, die Rückkehr in die Völkergemeinschaft und die deutsche Einheit ermöglicht hat, braucht sich ja nicht zu genieren.

Um diesen Sinn der Demokratie zu erfüllen, braucht es eine Verfassung, die die Verteilung und Handhabung der staatlichen Macht regelt, insbesondere auch das Machtmonopol des Staates vorschreibt und die dafür notwendigen Verfahrensregeln festlegt. Entscheidend ist, dass dem allen eine Wertordnung zugrunde liegt, eben die Wertordnung des Grundgesetzes. Kern ist der erste Satz. Die Menschenwürde ist unantastbar. Daraus werden Werte wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit abgeleitet. Die wichtigste Funktion dieser Werte ist, dass sie als Kriterien dienen um konkrete Situationen und Vorschläge zu beurteilen.

Kehren wir zurück zur Frage ob Demokratie selbstverständlich ist. Nein, sie bedarf der Mitverantwortung aller Bürgerinnen und Bürger. Wenn die Leute sagen `man müsste das und das ändern`, hole ich immer mein Telefonbuch hervor und sage `zeigen Sie mir mal die Telefonnummer von man`. Der große Verfassungsrechtler Böckenförde prägte den Satz „Der Staat kann jedenfalls allein die Voraussetzungen nicht schaffen, von denen seine Verfassungsordnung lebt“. Ein Satz, der zu Recht immer wiederholt wird. Zu Recht, denn um die Richtigkeit dieses Satzes zu bestätigen, müssen wir nur in die Weimar Republik zurückblicken. Da hat es der Staat nicht geschafft zu verhindern, dass sich am Ende nur noch eine Minderheit für die Demokratie engagiert. Jeder Einzelne ist verantwortlich!

Dazu bedarf es einer politischen Bildung, vielleicht sogar Erziehung. Eine Bildung von Kindertagen an, die eine Mitverantwortung für diese Lebensform aufzeigt und die auch das Wissen darüber einschließt was geschieht, wenn es diese Staatsform nicht mehr gibt. Man kann das auch als Persönlichkeitsbildung bezeichnen.

Im Folgenden beantwortete Dr. Vogel die Fragen des MLLV-Teams.

MLZ: Glauben Sie, dass es für die demokratische Besinnung charakterliche Voraussetzung braucht? Oder ist jeder zu einem Demokarten erziehbar? Eine interessante Frage. Also jeder im Sinne von 100 Prozent, das glaube ich nicht. Es wird immer einen Rand geben oder Einzelpersonen, die für die Demokratie nicht gewonnen werden können oder sich ihr sogar entgegenstellen. Ich gehe nicht so weit, dass ich sagen würde, wer für die Demokratie kämpft, ist charakterlich von vornherein besser als die Anderen. Dennoch würde ich schon sagen, dass es eine Persönlichkeitsfrage ist. Der, der der Demokratie völlig gleichgültig oder feindlich gegenüber steht, der hat insofern ein Persönlichkeitsminus, als er sich doch fragen sollte, was passiert eigentlich mit der nächsten Generation, wenn sich seine Meinung durchsetzt.

Es ist gut, dass wir weltweit für die Demokratie die Stimme erheben. Es ist gut, dass wir es vor allem auch unter Berufung auf unsere NS–Vergangenheit tun, die uns ja erst dazu gebracht hat.

Ich habe aber manchmal ein etwas ungutes Gefühl, wenn das Werben für unsere Form der Demokratie mit der Androhung von Nachteilen verbunden wird. Wenn wir beispielsweise 1,3 Milliarden Chinesen belehren und sagen `ihr müsst mit Nachteilen rechnen von unserer Seite, wenn ihr nicht demokratisch werdet`. Das ist mir zu diffus. Nicht, dass ich die Überlegenheit der Demokratie in Frage stelle. Aber die Chinesen haben eine sehr lange Geschichte und Kultur und wenn ich mich im Moment umschaue, verhält sich der chinesische Präsident in einigen Fragen vernünftiger als ein bestimmter westlicher Präsident. Ich verweise da auf Helmut Schmidt, der immer betonte, man solle darauf hinweisen, dass Demokratie die menschlichste Staatsform sei, aber man solle nicht den Eindruck erwecken, dass wir die Meister der Welt sind.

MLZ: Sie haben 1993 den Verein „Gegen das Vergessen – für Demokratie“ mit gegründet und engagieren sich seit Jahren im Kuratorium des NS-Dokumentationszentrums. Auch in der Schule nimmt das „Dritte Reich“ fächerübergreifend breiten Raum ein. Gemeinsames Ziel ist ein entschiedenes „Nie wieder!“ Wie können Schüler lernen, selbstbewusst und mutig einzuschreiten, wenn Menschenrechte und Demokratie in Gefahr geraten?

Ich habe es immer für wichtig gehalten, dass Menschen, die Ausschwitz oder ein anderes Lager überlebt haben, jungen Menschen über ihr Leben berichten. Max Mannheimer, ein guter Freund von mir, war als aktiver Zeitzeuge dafür ein ganz besonderes Vorbild. Leider entsteht langsam eine große Lücke, da es immer weniger dieser Zeitzeugen gibt. Die Lücke kann man zwar nicht schließen, aber man muss sich mit technischen Hilfsmitteln wie Film- und Tonaufnahmen einigermaßen behelfen. Außerdem müssen Unterrichtsgänge zu Gedenkstätten gut vorbereitet sein und dürfen nicht zu einem Routinebesuch werden. Die richtige Vor- und Nachbereitung ist hier immens wichtig. Den Jugendlichen muss klar werden, dass es in Demokratien noch nie Konzentrationslager gab und auch nicht geben wird. In Ausschwitz gibt es z.B. eine Jugendbegegnungsstätte, bei deren Gründung ich mithelfen konnte, die Möglichkeiten der Unterstützung für Besuche von Jugendgruppen anbietet.

Die Jüdische Kultusgemeinde hier in München veranstaltet jährlich am 9. November eine öffentliche Namenslesung zur Erinnerung an die Münchner Todesopfer durch die Nationalsozialisten an der auch unsere Vereinigung mitwirkt. Wenn dabei die Namen und das Alter von ermordeten Säuglingen, Kindern und Jugendlichen vorgelesen werden, löst das auch bei Menschen, die dem Holocaust ferner stehen, emotionale Betroffenheit aus.

Man muss wissen, dass Demokratie mit ihren Freiheiten und mit dem was droht, wenn sie verloren geht, immer auch etwas mit Emotion zu tun hat und keine intellektuelle Überlegung ist.

MLZ: Die heutigen jungen Menschen haben Gott sei Dank keine Erinnerungen mehr an die katastrophale erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und haben auch keine Familienmitglieder mehr, die ihnen davon erzählen können. Glauben Sie, dass dies die Akzeptanz von Demokratieerziehung beeinträchtigt?

Also Kräfte, die in unsere Richtung gewirkt haben, werden dadurch schwächer, eben auch, weil keine Zeugen unmittelbarer Art mehr da sind. Das muss man sehen und dem muss man entgegenwirken. Aber jungen Menschen Krieg vor Augen zu führen, dafür gibt es schon Möglichkeiten.

In München ist im Mai 1945 auf Veranlassung der Amerikaner ein Film gedreht worden, der zeigt wie die Stadt im Mai 1945 aussah. Diesen Film kann man im Stadtarchiv ausleihen. Oder wer will, kann mit den jungen Menschen nach Verdun fahren. Da liegen insgesamt 600 000 Menschen. Hier kann man auch das positive Element ansprechen, dass Deutschland und Frankreich ihre Feindschaft im Zuge der europäischen Einigung überwunden haben.

MLZ: In der Schule vermitteln wir Menschen die demokratischen Prinzipien, die selbst noch gar nicht wählen dürfen. Viele Jugendliche denken sich, dass sie damit ja noch nichts zu tun haben. Sind Sie für die Herabsetzung des Wahlalters?

Eher nicht. Ich war dafür, als das Wahlalter auf 18 Jahre herabgesetzt wurde. Wenn wir jetzt auf 16 Jahre gehen, dann träfen Menschen Entscheidungen über das Gemeinwohl, die über ihr eigenes Wohlergehen noch nicht uneingeschränkt bestimmen können, sondern noch unter elterlicher Sorge oder Vormundschaft stehen. Diesen Widerspruch macht mir zu schaffen, weil ich gegen Volljährigkeit mit 16 Bedenken habe.

MLZ: In der Grundschule gibt es wenige politische Themen im Lehrplan. Trauen wir unseren Kleinsten zu wenig zu?

Wenn man konkrete Situationen schafft, die dann demokratisch gelöst werden, können durchaus auch Kinder im Alter von sieben oder acht Jahren in dieser Hinsicht Aha-Erlebnisse haben.

MLZ: Sie selbst haben vielfach erlebt, dass in der Politik nicht alles rein sachlich, menschlich fair und demokratisch abläuft. Schon Kinder und Jugendliche erleben, dass in vielen Gruppen Gleichaltriger, gesellschaftlich und erst recht global häufig das „Recht“ des Stärkeren zählt. Welche Handlungsstrategien sollte Demokratiepädagogik deshalb vor allem vermitteln?

Den Satz, dass nicht mehr die Stärke des Rechts, sondern das Recht des Stärkeren gilt, würde ich für die Bundesrepublik bestreiten. Wir haben ein Maß an Rechtsstaatlichkeit, um das uns die halbe Welt beneidet. Natürlich gibt es in anderen Staaten der Welt in diesem Bereich erhebliche Lücken. Staaten zerfallen einfach, zum Beispiel Syrien. Ich weiß nicht, ob noch jemand aufzählen kann, wer gegen wen in Syrien kämpft oder gekämpft hat. Den Schülerinnen und Schülern muss unbedingt vermittelt werden, wie die Demokratie den Menschen erleichtert, in Frieden, ohne Gewalt und Krieg und unter dem Schutz des Rechts zu leben.

Ich würde mir wünschen, dass man mit unserer Politik ein bisschen schonender umgeht. Natürlich verdient die Politik auch Kritik und muss kritisch beobachtet werden. Aber die Menschen, die sich politisch engagieren, sind auch nicht schlechter oder besser als alle anderen Menschen. Auseinandersetzungen, Machtkämpfe und Intrigen gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ich habe mir sagen lassen, dass das durchaus auch schon in Schulen passiert, ohne dass sich gleich die Presse draufstürzt.

MLZ: Was hat Ihnen geholfen, ihre politischen Standpunkte, auch gegen Widerstände, voranzubringen?

Erstens habe ich mir zunächst das entsprechende Sachwissen möglichst gründlich angeeignet. Ich habe nichts von aufgeschnappten Informationen gehalten, die mir irgendwer zugesteckt hat.

Zweitens bin ich nicht gleich nach dem Studium in die Politik gegangen, sondern habe erst einmal normale Lebenserfahrung gesammelt, so habe ich nach meinem Examen zunächst im bayerischen Justizministerium gearbeitet, war dann Amtsrichter und als solcher eine Zeit in die Staatskanzlei abgeordnet und wurde schließlich berufsmäßiger Stadtrat.

Und drittens kann man anderen ziemlich fest und deutlich entgegentreten, wenn man sich selber einigermaßen sauber gehalten hat. Außerdem habe ich als Politiker immer den Kontakt mit den „ganz normalen“ Menschen gesucht. Zum Beispiel hielt ich mich an die eiserne Regel, dass jeder Brief beantwortet werden muss. Das war nicht einfach, aber ich habe es durchgehalten. Zudem unterhielt ich als Bundestagsabgeordneter zuerst in München und dann in Berlin ein Bürgerbüro, das insgesamt von über 30 000 Bürgerinnen und Bürgern besucht wurde, von denen 4000 mit mir sprachen. Dadurch war ich immer nah an den Problemen und Nöten der Menschen und lief nicht Gefahr, im allgemeinen Politikbetrieb abzuheben.

MLZ: Sie waren über viele Jahrzehnte aktiver Politiker, haben enorm viel Lebenskraft und Zeit investiert und mussten immer wieder auch herbe Niederlagen einstecken. Was kann junge Menschen dazu motivieren, sich politisch zu engagieren und durchzuhalten?

Denen, die nur kritisieren und alles anders haben wollen, sollte man entgegenhalten, dass sie sich doch dann selber engagieren und es ändern sollen. Man kann ihnen zum Zweiten sagen, du wirst ein besseres Gefühl haben, wenn du dich selbst engagierst. Und zum dritten: du hast vielleicht auch die Möglichkeit dein Wissen und deine Lebenserfahrung in der Gemeinde oder im Bezirksausschuss einzubringen. Und wenn es dir als Mitglied nicht passt, wie Parteien sich verhalten, dann protestiere dagegen, rausgeschmissen wirst du deswegen nur ganz ausnahmsweise. Es gibt ja dafür auch überzeugende Beispiele. Dass wir die Umweltpolitik schon früher auf der Tagesordnung hatten als andere Länder, das verdanken wir denen, die dem Thema eine parlamentarische Vertretung verschafft haben, den Grünen. Das waren Leute, die nicht nur kritisiert, sondern auch gehandelt haben. Und politisches Engagement muss, wie mein Beispiel zeigt, ja auch nicht lebensverkürzend wirken. Dafür ist auch Helmut Schmidt ein Beweis. Der wurde ja sogar als Raucher 97 Jahre alt.

MLZ: Die Wahlbeteiligung ist bei der diesjährigen Wahl zwar gestiegen, aber dennoch verbesserungswürdig (76,2 Prozent). Geht es den Deutschen zu gut, dass ihnen teilweise ihr Wahlrecht, das so hart erkämpft wurde, nicht wichtig ist?

Ich habe mich immer für eine höhere Wahlbeteiligung eingesetzt. Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik immerhin noch im oberen Mittelfeld. Dies ist nicht schlecht, wenn man es zum Beispiel mit den USA vergleicht, die gerademal gute 50 % schaffen. Bei der letzten Wahl hat zur höheren Wahlbeteiligung die AFD beigetragen. Problematisch bleibt jedenfalls, dass das Prekariat weniger oft wählt als die Wohlhabenderen.

MLZ: Churchill meinte bekanntlich: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ In Ihrer Rede vor dem Bundestag am 28.11.1989 haben Sie auf gesellschaftliche Defizite der alten Bundesrepublik hingewiesen. An welchen Stellen unserer Demokratie sehen Sie als überzeugter Demokrat nach wie vor Reformbedarf?

Ich fange jetzt nicht mit einzelnen Sachgebieten an. Für wichtiger halte ich die Frage nach Bürgerentscheiden auf Bundesebene. Es war das Volk in der DDR, das letzten Endes die Einheit bewirkt hat. Nach den Erfahrungen in Bayern halte ich Bürgerentscheide auch auf der Bundesebene für sinnvoll. Auch die Gleichberechtigung der Frauen gehört zu dieser Problematik. Die SPD hatte die Quote schon 1988 eingeführt, nach 1990 wurde die Verstärkung der Gleichberechtigung sogar in das Grundgesetz aufgenommen. Stark beschäftigt hat mich aber auch eine Frage, die lange von der öffentlichen Tagesordnung verschwunden ist, die ich aber nach wie vor für wichtig halte. Ich meine die Bodenrechtsfrage. Grund und Boden sind unverzichtbar und unvermehrbar. Dennoch bestimmt der Markt über die Preisentwicklung. Wissen Sie um wie viel die Bodenpreise in München seit 1950 gestiegen sind? Um 34 000% und in der Bundesrepublik seit 1962 um 1800%. Das Grundgesetz gäbe hier die notwendigen Voraussetzungen, um Korrekturen zu bewirken. In der Bayerischen Verfassung steht sogar – was heute niemand mehr weiß - dass leistungslose Bodengewinne der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen sind.

MLZ: Durch die Lobbyarbeit der großen Konzerne mit direktem Einfluss auf die Gesetzgebung und EU-Regelungen erscheinen die Vertreter des Volkes mehr oder weniger als Marionetten der Wirtschaft. Politikverdrossenheit, im schlimmsten Fall Hinwendung zum Rechtsradikalismus, der das Parlament gern als „Quasselbude“ verunglimpft, sind Folgen. Wie kann man diesen Klischees entgegenwirken?

Der Aussage, dass Politiker generell als Marionetten der Lobbyisten agieren, muss ich ganz klar widersprechen. Es gibt sicher Einzelfälle, aber das ist kein strukturelles Element. Ich war selbst im Bundestag und habe noch genügend Kontakte, um diejenigen, die heute im Bundestag sitzen, einigermaßen beurteilen zu können. Es gibt Einzelfälle, die dank der Recherchen von Medien der Öffentlichkeit bekannt werden und dann geschieht auch etwas. Alle wesentlichen Entscheidungen werden nach wie vor im Bundestag getroffen. Allerdings ist zu Recht beanstandet worden, dass im Parlament keine streitigen Auseinandersetzungen mehr über große Fragen stattfinden wie etwa über die Ostpolitik. Dass man zum Beispiel die Ehe für Alle nach einer Anderthalbstundendiskussion einführt, halte ich für unangemessen. Klischees über die Politik werden leider durch die Medien verstärkt. Ich möchte eine deutlichere Unterscheidung zwischen Einzelversagen und Einzelskandalen und einer generellen Beurteilung von Politik.

MLZ: Die Flüchtlingsströme der letzten Jahre führen uns nicht zuletzt die negativen Seiten von Globalisierung und Klimawandel deutlich vor Augen. Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen heißt vor allem, globale Ungerechtigkeiten zu überwinden. Halten Sie das für möglich, auch wenn dies für die Wähler im „Westen“ zunächst einmal bedeutet, in erheblichem Maß auf Wohlstand verzichten zu müssen?

Wenn wir die Fluchtursachen, nämlich die Kluft zwischen Arm und Reich, wirksam bekämpfen wollen, heißt das, dass wir unser eigenes materielles Wachstum bremsen müssen. Wir haben bislang zu wenig für die Entwicklungsländer getan, wobei zu viel Geld auch in den Taschen der dort Regierenden verschwunden ist. Aber erträgliches Leben bei uns ist doch wohl nicht einfach identisch mit Wachstum. Quantität ist doch nicht identisch mit Qualität, ich meine Lebensqualität. Wer hat denn die Natur im Übermaß in Anspruch genommen. Die Leute in Mali etwa? Wer hat denn die globalen Vorräte verbraucht und das Klima verändert? Hier ist globales Denken gefragt. Der Druck bis hin zum Terror wird von denen, die in der Kluft versinken, immer stärker werden.

MLZ: Steigt die Sensibilität in der Bevölkerung dafür? Der billige Preis regiert dann doch die Kaufentscheidung gegenüber Fair Trade z.B.?

Das muss nicht so bleiben. Die Bio-Landwirtschaft gewinnt doch auch mehr und mehr an Aufmerksamkeit. Auch die Umweltbelastung dadurch, dass wir Äpfel aus Neuseeland holen, anstelle aus Pfaffenhofen, gerät in den Fokus der Menschen. Das wäre auch ein Grund den Kindern das im Unterricht zu verdeutlichen.

MLZ: Wir freuen uns sehr, dass Sie nun seit 50 Jahren Mitglied und inzwischen Ehrenmitglied im MLLV sind! Was verbindet Sie vor allem mit dem MLLV?

Ausgangspunkt war eine sehr enge Beziehung mit Wilhelm Ebert in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Nach meiner Münchner Zeit ist dann eine lange Pause entstanden. Denn während meiner Bonner und Berliner Jahre, ließ sich der Kontakt nicht so aufrechterhalten. Er hat sich erst nach meiner Rückkehr nach München mit Frau Lucic wieder ganz hergestellt.

MLZ: Der MLLV feiert in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen. Was wünschen Sie dem Verband für die Zukunft?

Ich wünsche dem Verband, dass er seiner Verantwortung für das Gemeinwohl weiterhin so gerecht wird wie das in beispielhafter Weise schon bei Wilhelm Ebert der Fall war. Es ist wichtig, dass der MLLV nicht nur die eigenen beruflichen Anliegen im Auge hat, sondern eben auch die allgemeine Entwicklung, die Demokratie und die politische Bildung im Auge behält und ernst nimmt. Und das tut er gegenwärtig in überzeugender Weise.

Katharina Stein, Martin Göb-Fuchsberger, Harun Lehrer, Ludwig Ziesche